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Auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit

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pbi-Freiwillige Hannah Matthews bei einer Begleitung

Nach zweieinhalb Jahren mit pbi in Kolumbien bin ich seit Juli dieses Jahres wieder zurück in Deutschland und habe nun meine vielfältigen Erfahrungen in diesem Bericht zusammengefasst. Ich frage mich, was mich dazu bewogen hat, nicht nur in dieses Projekt zu gehen, sondern auch nach den üblichen eineinhalb Jahren noch einmal um ein Jahr zu verlängern. Nun schwelge ich in Erinnerungen. Dabei denke ich an das erste Mal vor sieben Jahren, als ich nach Kolumbien kam, wie ich mich anschließend im Masterstudium mit dem Friedensprozess zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC beschäftigt habe und wie ich von einer Faszination für dieses Land in jeglicher Hinsicht überwältigt wurde. In erster Linie waren es nicht die gravierenden Kontraste von Arm und Reich oder die Gegensätze der verschiedenen Konfliktparteien, die mein Interesse weckten, sondern die unendliche Vielfalt dieses Landes. Es sind die unterschiedlichsten Kulturen, Dialekte und Naturlandschaften, die Kolumbien vereint. Mit jedem Tag, den ich in diesem Land verbracht habe, erschien es mir immer unmöglicher, eine präzise und umfassende Beschreibung dafür zu finden. Die Arbeit mit pbi war für mich die Möglichkeit, diesen Reichtum in einer einzigartigen Weite und Tiefe zu erleben.

Nun spüre ich den unterschiedlichsten Gefühlen nach, die ich während meiner Zeit mit pbi in Kolumbien erlebt habe. Oft habe ich gehört, dass pbi eine Schule fürs Leben sei und ich merke, dass diese Beschreibung für mich sehr passend ist. Ich habe den Eindruck, dass ich an vielen sehr intensiven Gefühlen wachsen durfte, wofür ich sehr dankbar bin.

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pbi-Freiwilliger Michael Kettelhoit bei einer Begleitung

Da war Ungeduld und gelegentlich Unverständnis, wenn die interne Konsens­findung manchmal ein schwieriger und langwieriger Prozess war. Es ist unsere Überzeugung bei pbi, dass sich Gewalt­freiheit nicht nur in dem Verzicht auf Waffen, sondern insbesondere auch in einer respektvollen und alle Beteiligten einschließenden Arbeits­weise ausdrückt – ohne interne Hierarchien. Dadurch sind Diskussionen und Entscheidungs­prozesse oftmals umfassend und folglich von langer Dauer. Auch wenn ich die Idee teile, dass Gewalt­freiheit ein sehr tiefgreifendes Konzept ist, und von den Vorteilen der Arbeit im Konsens überzeugt bin, kann die Umsetzung in bestimmten Situationen auch frustrieren.

„Ich bin dankbar für ein neues Verständnis von Konflikt und Frieden“

Da war Wut und Ohnmacht, wenn mir beispielsweise die Machtspiele und die Verzögerungstaktik der Verteidigung in Gerichtsverhandlungen so offensichtlich vorkamen, aber doch vom Gericht akzeptiert wurden. In diesen Momenten wurde mir bewusst, dass Straffreiheit nicht nur bedeutet, dass Verbrechen nicht juristisch verfolgt und aufgeklärt werden, sondern auch, dass juristische Prozesse ständig hinausgezögert und oftmals schließlich eingestellt werden. Durch diese Taktiken sind die Opfer immensen psychischen Belastungen ausgesetzt. Einerseits müssen sie ihr Leid wiederholt schildern, andererseits werden ihre Hoffnungen auf Gerechtigkeit immer wieder aufs Neue gedämpft. Das führt dazu, dass viele Opfer die Hoffnung in eine gerichtliche Aufarbeitung aufgeben.

Da war Trauer, wenn uns oder den von pbi begleiteten Menschenrechtsverteidiger_innen nahestehende Personen, Opfer eines Verbrechens wurden. Ich denke nicht nur an die unbeschreiblich hohe Zahl der Morde, die Kolumbien zu verzeichnen hat, sondern auch an Verleumdungen, Bedrohungen und Verfolgungen, die zu jedem Zeitpunkt allgegenwärtig waren. Besonders eindringlich war dieses Gefühl, wenn wir Personen sogar in alltäglichen Situationen begleiten mussten, im Supermarkt oder beim Friseur, weil selbst in diesen Situationen ein Risiko für sie bestand, bedroht oder angegriffen zu werden.

„Unsere Anwesenheit macht einen Unterschied für die Menschenrechtverteidiger_innen“

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David Ravelo nach seiner Freilassung im pbi-Büro in Bogotá

Aber dann war da auch ganz viel Hoffnung, wenn ein gerechtes Gerichtsurteil gefällt wurde, das Täter_innen bestrafte und Opfer entschädigte oder kriminalisierte Menschenrechts­verteidiger_innen für unschuldig erklärte. So wurde beispielsweise 2017 der Menschen­rechts­verteidiger David Ravelo freigelassen. Er saß wegen Mordes verurteilt seit sieben Jahren im Gefängnis, wobei die Beweis­führung unter anderem von den Vereinten Nationen stark angezweifelt wurde. Die Anklage beruhte einzig auf den Aussagen zweier ehemaliger Paramilitärs. pbi hat ihn weiterhin begleitet und regelmäßig im Gefängnis besucht. Als wir David Ravelo schließlich wieder bei uns im Wohnzimmer begrüßen konnten und seinen ungebrochenen Tatendrang erleben durften, war dies die Bestätigung dafür, dass sich Ausdauer lohnt und Veränderungen zum Positiven immer möglich sind.

Da war Freude und Vertrauen, wenn wir merkten, dass die Personen, die wir begleiten, ein wenig entspannen konnten, wir gemeinsam lachten und einen köstlichen Kaffee genossen. Vor allem die vielen kleinen Momente, die Gesten, an denen wir erkennen konnten, dass unsere Anwesenheit für die Menschenrechtsverteidiger_innen einen Unterschied machte, bleiben nicht nur im Gedächtnis, sondern prägen nachhaltig. Vielfach wurde mir gesagt, dass besonders die zwischenmenschliche Begegnung und das persönliche Interesse den Unterschied zu den distanzierten und oftmals undurchsichtigen Leibwächter_innen des staatlichen Schutzprogramms ausmachen. Diese Nähe erlaubt es, Vertrauen aufzubauen. Das wiederum ist die Basis unserer Zusammenarbeit, ohne die die internationale Schutzbegleitung nicht funktioniert.

Und schließlich war da Bewunderung für die Ausdauer, die Sturheit, die Kraft und die Energie, die die Menschenrechtsverteidiger_innen auszeichnet, die nicht nur in Kolumbien, sondern auch in vielen anderen Regionen weltweit unter solch schwierigen Bedingungen für ihre Rechte und die anderer Menschen kämpfen. Überzeugt, sich für eine richtige und wichtige Sache einzusetzen, trotzen sie den Gefahren und den ständigen Rückschlägen. Viele von ihnen riskieren teilweise bereits seit Jahrzehnten ihr Leben und das ihrer Familien. Mich haben diese Menschen tief beeindruckt und ich konnte viel von ihnen lernen.

Wenn ich jetzt an all das zurückdenke, verspüre ich vor allem Dankbarkeit. Dankbarkeit für die Möglichkeit, viele wunderbare Menschen kennengelernt zu haben. Dankbarkeit dafür, dass ich mich sehr intensiv mit meinen Stärken und Schwächen auseinandersetzen konnte und manchmal auch musste. Dankbarkeit, ein neues Verständnis von Konflikt und Frieden erlangt zu haben. Ich habe lernen dürfen, dass diese Konzepte nicht nur abstrakt sind, sondern dass man sie fühlen kann. Schon bevor ich nach Kolumbien gegangen bin, war mir bewusst, welches Glück ich hatte in Deutschland in einem behüteten Elternhaus aufwachsen zu können. Aber seit ich wieder aus Kolumbien zurückgekommen bin, gehe ich mit einem anderen Gefühl durch die Straßen – einem Gefühl von Frieden. Ich spüre regelrecht, dass Deutschland trotz aller Probleme, die es auch hier gibt, ein friedliches Land ist. Hier können wir weitgehend frei unsere Meinung vertreten und für unsere Überzeugungen und Rechte kämpfen, ohne direkt um unser Leben fürchten zu müssen. Hier haben wir einen Rechtsstaat, in dem Unrecht verfolgt wird, auch wenn unser System sicherlich nicht perfekt ist. Ich merke, wie eine Last von mir abfällt, die sich in den letzten Jahren schleichend angehäuft hat. In Kolumbien in diesem Kontext zu arbeiten, ist nicht einfach, weswegen ich einerseits unglaublich dankbar bin, dass ich die Möglichkeit hatte, nach Deutschland zurückzukehren, andererseits verspüre ich Trauer. Denn die Menschen, die sich in Kolumbien und in den vielen anderen Regionen der Welt unter schwierigsten Bedingungen für ihre Rechte einsetzen, können sich nicht einfach aus dieser Situation zurückziehen. Daher möchte ich auch weiterhin meinen Beitrag dazu leisten, dass die Menschenrechte respektiert werden, sowohl lokal, als auch global. Denn die Verteidigung der Menschenrechte hier und überall auf der Erde beginnt mit dem Verhalten von jedem_r Einzelnen von uns!