04.02.2022 – Ende letzten Jahres begleitete pbi Kolumbien die Entstehung des Wandbildes „Wer gab den Befehl?“, das von der „Kampagne für die Wahrheit“ koordiniert wurde. Die politische und kulturelle Gedenkveranstaltung fand statt, nachdem das Verfassungsgericht ein Urteil erlassen hatte, das sich für das Recht auf freie Meinungsäußerung der Nationalen Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen (MOVICE) aussprach.
Dies ist die ganze Geschichte: Das erste Bild, das 2019 von der „Kampagne für die Wahrheit“, einem Dachverband von Menschenrechtsorganisationen, entworfen wurde, zeigte die Gesichter von fünf hochrangigen Militärkommandeuren, unter deren Kommando im Zeitraum von 2000 bis 2010 5,763 außergerichtliche Hinrichtungen stattfanden. Bei den Opfern handelte es sich um meist jugendliche Zivilist:innen, die vom Militär als im Kampf getötete Guerillas dargestellt wurden. Dabei handelt es sich um eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des bewaffneten Kampfes in Kolumbien und ein zentrales Thema für die Übergangsjustiz.
Ende 2019 reichte General Pinto Lizarazo, einer der abgebildeten Kommandanten Klage ein, um das Wandbild aus den sozialen Medien entfernen zu lassen. Die Aktion von MOVICE verletzte seiner Meinung nach seine Ehre und seinen guten Namen. Der Klage schloss sich General Uribe an, der zwischen 2006 und 2008 Befehlshaber der kolumbianischen Nationalarmee war. Im Februar 2020 gab das Zivilgericht von Bogotá dem Antrag der militärischen Oberbefehlshaber statt, mit dem Argument, dass die Werturteile nicht geäußert werden könnten, solange es keine Gerichtsurteile gegen die Militärführung gäbe. Aufgrund dessen wurde angeordnet, das Wandbild innerhalb von 48 Stunden von den Straßen und sozialen Medien zu entfernen. Dies war jedoch nicht mehr machbar: Das Bild war bereits Hunderte Male auf Twitter geteilt worden und rund 5,000 Plakate mit dem Motiv des Wandgemäldes waren in Bogotás Straßen sowie in den Straßen anderer kolumbianischer Städte zu sehen. MOVICE legte Berufung gegen die Entscheidung des Gerichts ein, „Wer gab den Befehl?“ zu zensieren, während die Untersuchung das wachsende Ausmaß der außergerichtlichen Hinrichtungen in Kolumbien bestätigte.
Nach einer Überprüfung durch verschiedene Kommissionen und Organisationen erklärte die Kammer für die Anerkennung der Wahrheit der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, dass „zwischen 2002 und 2008 im gesamten Landesgebiet mindestens 6,402 Menschen unrechtmäßig getötet wurden, um als im Kampf gefallen dargestellt zu werden“. Die im Bericht bekanntgegeben Zahlen bestätigen die von den Organisationen aufgestellte Hypothese über die Existenz einer Militärstrategie, die das Fortbestehen dieses Verbrechens begünstigte, das ohne jede Art von Kontrolle, Überprüfung oder Sanktionierung der Verantwortlichen begangen wurde. Eine Strategie, die schmutzige Kriegsmethoden mit wenig transparenten, persönlichen und institutionellen Anreizen und Vorteilen kombinierte, mit dem Ziel den Anschein von militärischem Erfolg und Sicherheit zu erwecken.
Nach fast zwei Jahren gerichtlicher Auseinandersetzungen um die Rechtmäßigkeit dieses Emblems zum Gedenken an die Betroffenen und ihren Kampf um die Wahrheit, traf das Verfassungsgericht am 9. November 2021 die Entscheidung, die Meinungsfreiheit und das Gedenken an die Betroffenen zu schützen. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass das Wandgemälde „Wer gab den Befehl?“ aufgrund der Schwere der Fakten im Zusammenhang mit den außergerichtlichen Hinrichtungen, ihren immensen Auswirkungen auf die kolumbianische Gesellschaft und der Verantwortung von Armeeangehörigen, gegen die derzeit wegen ihrer angeblichen Beteiligung an den von den Beschwerdeführer:innen als systematisch bezeichneten Taten ermittelt wird, geschützt werden sollte. Gleichzeitig erklärte das Gericht, dass es sich bei dem Wandbild um eine Kritik am Staat handelt, was eindeutig Teil der öffentlichen Debatte ist, da Beamte möglicherweise in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein könnten. Deshalb betonte das Gericht, dass die Betroffenen das Recht auf die außergerichtliche Wahrheit haben, da „dies zur Konstruktion des historischen Gedächtnisses beiträgt. Die öffentlichen Erzählungen sind nicht nur ein Weg der Inklusion, sondern stellen auch ihr Recht auf Ehre wieder her und geben ihnen die Garantie, ihre eigene Wahrheit zu sagen. Daher kann festgestellt werden, dass der Versuch der Zensur zu einer erneuten Viktimisierung der Betroffenen führen kann“.
Text: pbi Kolumbien; Übersetzung: Annika Lehnhoft Orantes
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