24.10.2019 – Vom Kampf gegen das Gewaltsame Verschwindenlassen in Kolumbien berichtet uns im Interview Erik Arellana Bautista, Menschenrechtsaktivist und Künstler aus Bogotá.
pbi: Erik, kannst du kurz erklären, was Gewaltsames Verschwindenlassen ist?
Erik: Gewaltsames Verschwindenlassen ist ein Verbrechen, dass eigentlich aus verschiedenen Verbrechen besteht: Einerseits ist es eine illegale Entführung und willkürliche Verhaftung, meistens werden die Opfer auch gefoltert und schlussendlich ermordet. Außerdem wird der Ort, an dem die Leichen versteckt werden, geheim gehalten. Dieser Komplex verschiedener Verbrechen ist das „Gewaltsame Verschwindenlassen“. Meistens wird dieses Verbrechen von totalitären Regimen und Militärdiktaturen gegen Oppositionelle und Menschenrechtsaktivist_innen angewandt. In Kolumbien gibt es diese Form der Verbrechen seit Ende der 1970er Jahre.
pbi: Wie ist die Situation bezüglich des Gewaltsamen Verschwindenlassens in Kolumbien und warum habt ihr ein Buch darüber geschrieben?
Erik: Die Situation in Kolumbien ist sehr schrecklich, sehr schlimm im Vergleich zu anderen Ländern in Lateinamerika. Menschenrechtsorganisationen und Organisationen von Angehörigen von Verschwundenen schätzen, dass es in ganz Lateinamerika circa 250.000 Gewaltsam Verschwundene gibt. In Kolumbien sind über 80.000 Fälle dokumentiert, d.h. ein Viertel aller lateinamerikanischen Fälle. Diese Fälle verbleiben häufig in großer Ungerechtigkeit und Straflosigkeit, weil es ein sehr komplexes Verbrechen ist. Häufig gibt es keine Zeug_innen, keine Leiche, gegen die Täter wird nicht ermittelt und sie werden nicht bestraft. Gegen diese Situation kämpfen die Angehörigen seit dreißig Jahren. Strafprozesse, in denen gegen die Verantwortlichen ermittelt wird, gibt es im Fall von Gewaltsamen Verschwindenlassen nur in ungefähr 7.700 Fällen, bei diesen gibt es nur circa 370 Verurteilungen, d.h. die Straflosigkeit liegt bei ungefähr 99,5%. Dagegen kämpfen die Menschen. Außerdem ist das Gewaltsamen Verschwindenlassen nicht nur ein Problem der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. In den großen Städten wie Bogotá, Cali und Medellin gibt es viele Fälle von Verschwindenlassen auch heute noch.
Warum nun also dieses Buch?! Die Arbeit am Buch hat vor 3 Jahren begonnen und unser Ziel war es, eine neue, auch künstlerische und gut verständliche Form zu finden, um so für das Thema zu sensibilisieren. Wir wollen zeigen, was es für die Opfer, die Angehörigen und auch für die Gesellschaft als Ganzes bedeutet, wenn tagtäglich Menschen gewaltsam verschwinden. Das Gewaltsamen Verschwindenlassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und betrifft somit auch die kolumbianische Gesellschaft und die Menschheit als Ganzes.
In Kolumbien gibt es vier unterschiedliche Register staatlicher Stellen über Gewaltsam Verschwundene, die Zahlen dieser Quellen widersprechen sich. Wir wollten darstellen, was es heißt, wenn eine staatliche Stelle von 28.000, die andere von 80.000 Verschwundenen spricht. Warum gibt es da so große Widersprüche, warum hat der Staat keine einheitlichen, konsolidierten Zahlen? Warum sagen sie nicht, wie viele Verschwundene es wirklich gibt? Wir haben uns bei dem Buch für die Methode der sozialen Kartographie entschieden, wir arbeiten mit Landkarten, um das Phänomen greifbar und verständlich zu machen, um so die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Auf der Website des Projekts haben wir außerdem Aufsätze, Gedichte, Karten, Fotos und Aussagen von Angehörigen gesammelt, um uns der Tragödie des Gewaltsamen Verschwindenlassens mit verschiedensten künstlerischen Mitteln anzunähern (colombia.desaparicionforzada.com, Anmerkung der Interviewerin). Das Buch ist ein pädagogisches Werkzeug, um über das Gewaltsame Verschwindenlassen aufzuklären und dafür zu sensibilisieren. Wir möchten erreichen, dass die Menschen sich diesem komplexen Verbrechen annähern und verstehen, dass es als Verbrechen gegen die Menschheit alle betrifft und sich mit Betroffenen und Angehörigen solidarisieren. Diese Arbeit ist ehrenamtlich in Zusammenarbeit mit der Organisation Human Rights Everywhere (hrev.org, Anmerkung der Interviewerin) entstanden, nur für den Druck haben wir finanzielle Unterstützung bekommen. Wir verbreiten das Buch unentgeltlich und spenden es an Menschenrechtsorganisationen, Universitäten und Interessierte. Derzeit sind wir auf einer kleinen Europa-Tour, um das Buch bekannt zu machen und um zu zeigen, dass es ein aktuelles Problem ist.
pbi: In dem Friedensvertrag von 2016 zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla gibt es Bereiche, die das Gewaltsame Verschwindenlassen betreffen. Was wurde dort vereinbart und wie sieht es mit der Umsetzung dieser Vereinbarungen aus?
Erik: Ein Teil des Friedensvertrags besagt, dass sowohl die FARC-Guerilla als auch das kolumbianische Militär aussagen soll, wo die Leichen der von Ihnen ermordeten und verschwundenen-gelassenen Personen sind.
Außerdem gibt es drei Institutionen, die durch den Friedensvertrag geschaffen wurden: Die Wahrheitskommission, die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden und die Sucheinheit für Gewaltsam Verschwundene. Jede dieser drei Institutionen hat verschiedene Verantwortlichkeiten in Bezug auf das Gewaltsame Verschwindenlassen: Die Sucheinheit ist dafür zuständig die gewaltsam Verschwundenen zu suchen, die Leichen zu identifizieren und an die Angehörigen zu übergeben. Die Wahrheitskommission ist damit beauftragt, zu erforschen, warum diese Menschen verschwunden gelassen wurden, was die Gründe dafür waren. Und die Sondergerichtsbarkeit ist für die juristische Aufarbeitung zuständig, sie muss die Verantwortlichen ermitteln und vor Gericht stellen. Das Ziel dieser drei Institutionen ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen und zur Versöhnung und Wiedergutmachung beizutragen, aber das ist ein sehr langsamer und langwieriger Prozess.
pbi: Erik, Du bist auch bei Movice aktiv, dem Dachverband der Opfer von Staatsverbrechen. Was sind die Forderungen sozialer Bewegungen und von Movice konkret diesbezüglich?
Erik: Die Opfer und Angehörige haben in Kolumbien 16 Orte identifiziert, an denen Massengräber sind und Ermordete versteckt wurden. In dem Bundesstaat Antioquia, das die höchste Zahl an Verschwundenen aufweist - nämlich 20.000 Personen gibt es zum Beispiel einen Ort in Medellin mit dem Namen „La Escombrera“ (dt. „die Müllhalde“, Anmerkung der Interviewerin). Dort liegen vermutlich Hunderte von Leichen versteckt und gleichzeitig wird der Ort immer noch als Müllhalde genutzt. Wir als Opferverbände fordern, dass diese Orte, diese Massengräber von der Sondergerichtsbarkeit juristisch unter Schutz gestellt werden, damit anschließend die Sucheinheit für Gewaltsam Verschwundene endlich die Leichen bergen, identifizieren und an die Angehörigen zurückgeben kann.
Eine andere Forderung von uns ist, dass die Arbeit der Angehörigen, insbesondere der Frauen, der Mütter, der Schwestern von Gewaltsam Verschwundenen endlich anerkannt und wertgeschätzt wird. Die Suche nach den Verschwundenen haben historisch gesehen immer die Angehörigen durchgeführt, das ist nicht nur eine Arbeit von Expert_innen, von Menschen mit Uniabschlüssen, sondern es ist eine Arbeit der Basis, von den Familien. Das muss anerkannt werden und ihre Expertise in die staatliche Arbeit einfließen.
Eine weitere Forderung der sozialen Bewegungen, die auch Eingang in den Friedensvertrag gefunden hat, betrifft die politische Beteiligung durch 16 Sondersitze im Parlament für Vertreter_innen der Opferverbände. Obwohl diese Sitze im Friedensvertrag vereinbart wurden, sind sie derzeit noch nicht eingerichtet. Eine unserer Forderungen ist, diese Sitze einzurichten und den Opfern damit ein wichtiges Mitspracherecht zu geben.
Außer diesen politischen Forderungen leisten wir weiter viel Arbeit: Wir dokumentieren aktuelle Fälle des Gewaltsamen Verschwindenlassen, wir machen viel Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, psychosoziale Begleitung für Angehörige von Verschwundenen und Advocacy- und Lobbyarbeit. Ein wichtiges Ziel ist auch Solidarität und Empathie zu fördern. Die Mehrheit der Leute in Kolumbien denkt, dass das Gewaltsame Verschwindenlassen nichts mit Ihnen zu tun hat und in Europa denken natürlich auch viele Leute, dass die Situation in Kolumbien nichts mit Ihnen zu tun hat. Ich sage aber immer, dass wir als Menschheit eine Gemeinschaft sind. Wir leben alle zusammen auf diesem Planeten und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie das Gewaltsame Verschwindenlassen geht uns alle an.
pbi: Wie können wir euch von Deutschland aus unterstützen?
Erik: Es gibt verschiedene Arten sich mit uns zu solidarisieren. Am Anfang steht natürlich sich zu informieren und auch alternative Quellen dafür zu suchen, denn das Thema Gewaltsames Verschwindenlassen kommt in den Massenmedien quasi nicht vor. Es gibt auch in Deutschland viele Kolumbianer_innen, die hier im Exil leben, weil sie in Kolumbien bedroht sind. Es ist wichtig, sich hier vor Ort mit diesen Menschen zu solidarisieren. Wenn sie finanzielle Unterstützung leisten wollen, können Sie zum Beispiel an pbi spenden, weil pbi als Begleitorganisation vor Ort Menschenrechtsverteidiger_innen schützt. Eine weitere Möglichkeit ist durch ehrenamtliche Arbeit, Studien wie unsere Kartographie zu unterstützen, die ja auch nur durch ehrenamtliche Arbeit zustande gekommen ist. Jede Form der Unterstützung ist wichtig und immer ein Zeichen von Solidarität.
Zum Weiterlesen: Die Studie „Kartographie des Gewaltsamen Verschwindenlassens in Kolumbien“ kann unter folgendem Link umsonst online heruntergeladen werden: >> colombia.desaparicionforzada.com
Derzeit ist sie nur auf Spanisch verfügbar, wird aber demnächst ins Englisch übersetzt.
Das Interview führte Christina Gerdts