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Mexiko: "In der Sierra Tarahumara zu bleiben, bedeutet, für das Leben zu sorgen"

Mexiko: "In der Sierra Tarahumara zu bleiben, bedeutet, für das Leben zu sorgen"

29.03.2022 – Tief in den Bergen der westlichen Sierra Madre, im Nordosten Mexikos, leben die Rarámuri de Choréachi in der Gemeinde Guadalupe y Calvo, in einer felsigen und bergigen Gegend mit gefährlichen und schwer zugänglichen Schotterstraßen. Diese Abgeschiedenheit schützt die Gemeinschaft jedoch nicht vor der Ausbeutung und Zerstörung ihres Lebensraumes durch Unternehmen.

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Online-Veranstaltung: „Begleitung des Kampfes der Rarámuri um ihr angestammtes Gebiet“
Im Okto­ber 2021 erhielt pbi eine An­frage der Orga­nisation Alianza Sierra Madre (ASMAC), sie auf ihrer Reise in die Sierra Tara­humara zu begleiten. Im Bei­sein von CEDEHM (Menschen­rechts­zentrum für Frauen), bewaff­neten Sicher­heits­kräften sowie Bundes- und Landes­beamten beobachteten wir die Arbeits­ausschüsse, die mit den Gemein­schaften der Rarámuri statt­fanden. Alle Mitglieder der Gemeinschaft hatten die Möglich­keit, ihre Bedürf­nisse zum Aus­druck zu bringen, um die sozialen und sicher­heits­techni­schen Fragen im Rahmen der vom Inter­amerika­nischen Gerichtshof für Menschen­rechte 2017 an den mexika­nischen Staat gerichteten Präventiv­maßnahmen zu aktualisieren.

Während unseres Aufenthalts erlebten wir die Herzlichkeit der Menschen und die Ruhe dieser abgelegenen Region. Wir konnten den großen Reichtum und die Unermesslichkeit der Wälder in uns aufnehmen. Ein Wert, der nach Aussage der ASMAC- und Choréachi-Mitglieder, die Gier der Chabochis geweckt hat. Die Bezeichnung „Chabochi“ wird verwendet wird, um jemanden zu beschreiben, der nicht der Tarahumara-Kultur angehört.

Für die Rarámuri sind das Land, die Bäume und die Berge heilig und ein fester Bestandteil ihrer Lebensweise. Sie betrachten diese Elemente als Teil der Einheit Mensch-Natur. Der Respekt, den sie ihrer Umwelt, dem Wald, den Tieren und seinen Ressourcen entgegenbringen, ist ein wesentlicher Bestandteil eines Lebens in Harmonie. Sie respektieren und schätzen einen Baum genauso wie einen Menschen. Diese Vision der Rarámuri steht jedoch im starken Kontrast zur Realität – dem tagtäglichen Raubbau an den Wäldern.

Auf unserer Reise wurde deutlich, dass die verstärkte Nachfrage nach Holz die Wirtschaft der Region belebt hat, was zu einem Anstieg der nicht-einheimischen Bevölkerung geführt hat. Für die indigenen Gemeinschaften jedoch bedeutet die Abholzung der Wälder die Zerstörung ihres Lebens - ein direkter Verstoß gegen ihre Kultur und ihr Weltbild. Sie sehen, dass der Wald für die Chabochis lediglich wirtschaftliches Kapital darstellt. Im Laufe der Zeit bedeutete diese Realität für die Rarámuri den Verlust von Territorium und stellte sie vor die Herausforderung, ihre Traditionen und ihr soziales Gefüge aufrechtzuerhalten.

Die Geschichten, die wir während der Arbeitsausschüsse hörten, spiegeln die Angst der Gemeinschaft wider, alles zu verlieren und keine Institutionen zu finden, an die sie sich wenden können. Die Justiz- und Verwaltungsbehörden, die föderalen und lokalen Behörden „haben sich von uns abgewandt“ und räumen privaten und wirtschaftlichen Interessen in der Region einen höheren Stellenwert ein. ASMAC, eine Organisation, die die Gemeinschaft in ihrem Rechtsstreit um die Anerkennung ihres Territoriums begleitet, weist darauf hin, dass sich die Gemeinschaften in einer Zwangslage befinden. Sie haben weder die Kontrolle über die Nutzung der Ressourcen, noch erkennen die Behörden das ihr angestammte Land als ihr Eigentum an. Oft werden die Mitglieder der Gemeinschaft Opfer von Diebstahl, Bedrohung, Einschüchterung, Enteignung und Vertreibung. Einige Frauen erzählten zaghaft von ihren Ängsten vor der Ankunft der „bösen Männer“ und von ihrer Sorge um den Schutz ihrer Kinder, während ihre Kolleg:innen gezwungen sind, ihre Familien zu verlassen, um Arbeit zu finden. Jungen und Mädchen brachten in ihren Zeichnungen den Schmerz zum Ausdruck, den sie über den Verlust ihrer Eltern empfinden.

„Es ist schön, zusammenzuleben und gemeinsam Vereinbarungen für die verschiedenen Aktivitäten zu treffen, die wir in unserem Dorf durchführen. Aber wir leben nicht in Frieden in unserem eigenen Land, weil wir Angst haben. Die Ruhe wurde uns von den Chabochis genommen, die sich eingemischt haben – in unsere Orte, unsere Ländereien und unsere Wälder. Sie verbieten uns, das Dorf zu verlassen, um Beschwerden einzureichen oder um Unterstützung zu bitten. Wir leben mit dieser Angst, weil die Chabochi in unsere Dörfer gekommen sind und sich in unser Territorium einmischen, obwohl wir seit 20 Jahren für die Achtung und Anerkennung unserer Territorien und unserer Autoritäten kämpfen. Wir haben Angst, auf den Wegen zu gehen, weil die Chabochis sie auf- und abgehen, und wir haben Angst, ihnen zu begegnen und dass unsere Familien Opfer ihrer Schikanen und Drohungen werden. Wir wurden unseres Landes beraubt und leben nicht mehr in Frieden wie früher“.
- Indigene Gemeinschaft von Choréachi, Anhörung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, 2021

Der Raubbau an den Wäldern hat das Leben der indigenen Gemeinschaft von Choréachi grundlegend verändert und die Gewalt gegen die Gemeinschaft verstärkt. Diese Situation wurde von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt. Diese gewährten 2014 bzw. 2017 der Gemeinschaft und den Mitarbeiter:innen von ASMAC präventive und vorläufige Schutzmaßnahmen. Die Maßnahmen beinhalten unter anderem die Aufforderung an den mexikanischen Staat, Schritte zu ergreifen, die das Leben, die Unversehrtheit und die Sicherheit der Rechtsverteidiger:innen von Choréachi garantieren.

Diese Vorfälle sind keine Einzelfälle in Mexiko, wo Menschen, die ihre Stimme zur Verteidigung ihres Territoriums erheben, in Angst Leben müssen. Allein im Jahr 2020 meldete Global Witness mindestens 30 registrierte tödliche Angriffe auf Land- und Umweltschützer:innen in Mexiko, von denen sich die Hälfte gegen Mitglieder indigener Gemeinschaften richteten. In Guadalupe y Calvo wurden in den letzten drei Jahren mindestens 17 Land­rechts­verteidiger:innen aus dem heiligen Rarámuri-Gebiet ermordet.

Die Situation der Unsicherheit und Ungerechtigkeit ist besorgniserregend. Sie trägt zur Unsichtbarmachung der Choréachi-Gemeinschaft bei – einer Gemeinschaft, die bis heute keine staatliche Anerkennung ihrer Rechte auf ihr angestammtes Gebiet und ihre natürlichen Ressourcen genießt und mit Gewalt, Aggression und Drohungen konfrontiert ist.

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Rarámuri de Choréachi
pbi wird weiterhin ihren Kampf sicht­bar machen und den nationalen und inter­nationalen Unter­stützungs­netzwerken ihre Sorge über die Risiko­situation für die Gemein­schaft und die Mit­arbeiter:innen von Begleit­orga­nisationen wie ASMAC öffentlich machen. Land- und Umwelt­verteidi­ger:innen und indigene Gemein­schaften, die in der Sierra Tara­humara bleiben wollen, zu begleiten, bedeutet, sich um das Leben zu sorgen.

Text: pbi Mexiko; Übersetzung: Bundesfreiwillige Elisabeth Martínez

>> Online-Veranstaltung „Acompañando la lucha de los rarámuri por su territorio ancestral“ am 24. April um 20.30 Uhr (MEZ) mit Simultanübersetzung Spanisch-Englisch

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