15.09.2020 – Die problematischen Ausmaße der Überwachung in Kolumbien haben sich in der Zeit des Lockdowns weiter verschlimmert. Die ehemalige pbi-Freiwillige Sophie Helle hat mit dem Menschenrechtsverteidiger Germán Romero über die Lage gesprochen. Er erzählt von Datenverkäufen, Einschüchterung und der großen Angst, die sich unter der kolumbianischen Bevölkerung breit gemacht hat.
Der kolumbianische Anwalt und Menschenre
Gerade während der Ausgangssperre können Gefühle des Alleinseins besonders stark werden. Zur Zeit des Gesprächs dauerte der Lockdown in Kolumbien bereits vier Monate an und der Bewegungsfreiraum der kolumbianischen Bevölkerung war auf den eigenen Wohnraum beschränkt. Für die nachrichtendienstlichen Agenturen ein Vorteil: Seit über 120 Tagen arbeiteten die Internet-Nutzer_innen immer am gleichen Ort mit stets der selben IP-Adresse, was die Überwachung stark erleichtert.
Freier Markt für den Nachrichtendienst
Doch die Überwachungsproblematik hat schon eine viel längere Geschichte als vier Monate; regelmäßig werden neue Überwachungsskandale aufgedeckt. Ein Beispiel ist die Enthüllung der kolumbianischen Zeitschrift Semana im Mai 2020, die aufdeckte, dass eine Einheit der kolumbianischen Armee über 130 Bürger_innen (52 davon Journalist_innen) online ausspionierte.
Romero bezeichnet diese Überwachungspraktiken als freien Markt für den Nachrichtendienst: «Wir haben nicht nur eine, sondern mehrere Institutionen, die nachrichtendienstlich tätig sind. Sie sammeln und analysieren Daten, sie spionieren Leute aus. Dann verkaufen sie die Informationen an den Meistbietenden oder kooperieren untereinander im Namen eines „legitimen“ Ziels.» Somit stehen die gesammelten Daten nicht nur den jeweiligen Nachrichtendiensten, sondern auch der Polizei, weiteren staatlichen Sicherheitsbehörden und sogar privaten Unternehmen zur Verfügung.
Konsequenzen für Menschenrechtsverteidiger_innen
«Die Folgen der ununterbrochenen Sammlung unserer Daten, mit der wir jeden Tag leben, sind nicht zu unterschätzen,» erklärt Romero. «Die ständige Überwachung hat für den „Normalbürger“ keine lebensbedrohlichen Konsequenzen. Doch für Bürger_innen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen vertreten und für Gerechtigkeit kämpfen, ist die umfassende Datensammlung nicht nur eine umstrittene Maßnahme, sie stellt auch eine echte Gefahr für die persönliche Sicherheit dar.»
So sorgen diese sich dauernd wiederholenden Geschichten in der kolumbianischen Bevölkerung für große Angst: «Ich verstehe nicht, wie wir ein demokratischer Staat sein sollen, wenn die einzige Emotion, die wir empfinden, Angst ist.» Für Romero ist der kolumbianische Staat eine Demokratie in der Krise, solange er seinen internationalen Verpflichtungen zur Untersuchung und Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen, die im Land stattfinden, nicht nachkommt.
«Quédate en casa»
Speziell im gegenwärtigen Ausnahmezustand ist dies ein großes Problem. pbi ist besonders besorgt darüber, dass sich viele illegale Gruppierungen und Unternehmen nicht an die Ausgangssperre halten. Sie verfolgen ungestraft ihre Ziele, ohne dass Aktivist_innen und Gemeinschaften ihnen entgegenwirken oder sich schützen können. Diese sind momentan physisch isoliert und erhalten häufig keine staatliche Unterstützung; die Corona-Maßnahmen machen sie also noch verletzlicher.
«Ich glaube nicht, dass wir die Menschenrechte zu Hause vom Computer aus verteidigen können. Das geht in der realen Welt nicht,» bedauert Romero. «Indem Menschenrechtsverteidiger_innen ihre Arbeit nicht vor Ort ausüben dürfen, wird der Leitsatz „Quédate en casa“ (Bleiben Sie zu Hause) totalitär und gibt Raum für Repression, Verfolgung, Überwachung und außergerichtliche Hinrichtungen.»
Weitere Informationen:
>> Beitrag von Sophie Helle in der Friedenszeitung
Text: pbi Schweiz