„Ich bin über mich selbst hinaus gewachsen“

Jessica kommt aus den USA und hat 2009 bis Anfang 2010 ein Jahr als pbi-Freiwillige in Guatemala verbracht. In ihrer Reflexion schildert sie die Arbeit vor Ort und lässt uns an ihren Gefühlen teilhaben, die sie für die anderen Team-Mitglieder und für die Menschen, die sie begleitet, empfindet:

„Nach meinen kurzen neun Monaten mit peace brigades international fühle ich mich sehr privilegiert, weil ich bis jetzt schon so viele unvergessliche Momente erfahren konnte. In der Geschichte Guatemalas sind wichtige Dinge geschehen – die erste Urteilsverkündung eines Offiziers in einem Entführungsfall; die Vorlage von Militärdokumenten, die die „Operation Sofia“ genau beschreiben und als Beweis in einem Genozid-Prozess gegen Rios Montt vorgelegt wurden sowie auch in anderen pbi-Fällen, die ähnliche Vorfälle betreffen; die Fortschritte im Fall von Jorge López; unsere Anwesenheit bei der Exhumierung auf einer ehemaligen Militärstation in Quiché. All diese beeindruckende Erlebnisse, die wir als pbi-Freiwillige erfahren, sind meiner Meinung nach unvergleichlich. Wir kommen in dem Land an und, dank einer Weste und eines Namens (und dank all unserer pbi-Vorgänger), vertrauen uns die begleiteten Gruppen sofort und wir werden auch von Anfang an von den Autoritäten respektiert, obwohl sie uns gar nicht persönlich kennen. Ich fühle, dass ich während meiner Zeit im Team über mich selbst hinaus gewachsen bin.

Ich konnte viele ehemalige pbi-Freiwillige kennenlernen, die im Team-Haus vorbei gekommen sind und uns ihre Erlebnisse geschildert haben. Es gibt so viele Leute, die als pbi-Freiwillige gearbeitet haben und jetzt durch ihre Ländergruppen oder durch ähnliche Organisationen noch immer in dem gleichen Kampf involviert sind; wenn man davon hört, kommt einem die Welt plötzlich ganz klein vor und pbi recht groß. Ich finde es immer sehr bereichernd, von den ehemaligen pbi-Freiwilligen zu erfahren, wie sich das Land oder die Arbeit von pbi verändert hat. Außerdem hilft es einem auch, sich gegenseitig über die Leute auszutauschen, die wir seit Jahren begleiten. Erst gestern haben meine Teamkollegin Simone und ich darüber gesprochen, dass unsere persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse nur ein kleiner Teil dieser riesigen Leistung ist, die auch nach unserem Jahr im Team weitergehen wird – dank der Existenz aller Menschen, die wir begleiten, und dank allen pbi-Freiwilligen.

Für mich als Freiwillige im Team ist es manchmal schwierig, die Tiefe der Bedeutung der Arbeit von pbi zu verstehen. Ich habe immer wieder den Leuten, die wir jetzt begleiten oder früher begleitet haben, zugehört […] und sie sagen, dass unsere Anwesenheit für sie zwischen Leben und Tod entscheidet. Von anderen hören wir, dass ihre Arbeit erst durch unsere Arbeit möglich wird. Obwohl ich sehr an die Instrumente und Methoden unserer Arbeit glaube, ist es trotzdem überraschend, in die Augen eines Menschen zu sehen, der genauso ist wie ich, und von ihm so eine starke Aussage zu hören. In den unangenehmsten Momenten oder wenn ich um 4:30 Uhr morgens im Bus sitze, denke ich an diese Worte zurück und sie erinnern mich daran, wie dankbar ich dafür bin, hier bei diesen Menschen sein zu dürfen. Wir arbeiten mit Organisationen, Gemeinden und Einzelpersonen, die mich mit ihrer endlosen Energie und Leidenschaft ständig erstaunen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie frustriert sie sich fühlen müssen, wenn sie mit neuen politischen Herausforderungen, Sicherheitsrisiken und finanziellen Rückschlägen konfrontiert werden.

Ich kann meine Erfahrung mit peace brigades international nicht reflektieren, ohne „die Familie“ zu erwähnen. Wir reden oft von dem Leben im Projekt und darüber, was für eine Herausforderung es ist, 24 Stunden am Tag mit den gleichen Leuten zusammen zu arbeiten und zu wohnen. Diese Gegebenheiten sind sehr anstrengend, doch erleben wir zusammen auch viele wunderbare Momente. Vielleicht denkt jede_r so darüber, aber ich finde, ich hatte wirklich Glück, dass ich in ein Team mit so warmherzigen und inspirierenden Leuten aus der ganzen Welt gekommen bin. Hier habe ich viele Dinge zum ersten Mal erlebt: ich habe zum ersten Mal einen Italiener kennen gelernt, habe das erste Mal Leute aus der Schweiz getroffen (ich könnte jetzt so weitermachen, denn dies ist ein sehr „internationaler“ Abschnitt in meinem Leben), ich habe mein erstes Fondue gegessen, habe meine erste spanische Tortilla gekocht und zum ersten Mal erfolgreich mit Excel gearbeitet! Wenn ich daran denke, dass ich nur noch drei Monate hier leben und arbeiten werde, kommt es mir unmöglich vor, alles das zu tun, was ich noch tun will, alles das kennenzulernen, was ich noch lernen will, und Zeit mit den Leuten zu verbringen, die mir sehr wichtig geworden sind: die Menschen, die wir begleiten und auch die Mitglieder „der Familie“. Der einzige, wichtigste Punkt, der mir jetzt noch zu tun bleibt, ist einen Weg zu finden, in Guatemala zu bleiben.“